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Ich lebe: Der Babylonische Turm

Reihe von Dr. med. Tönet Töndury / Frühling 2003

Der Babylonische Turm und wie wir Barmherzigkeit erfahren - ein meditativer Alptraum

Aus der Unendlichkeit der Weltenseele hat sich eine einzelne Seele - meine Seele - herauskristallisiert, sich formiert und Individualität angenommen. Sie hat sich entschlossen in die Welt, die wir als Diesseits erfahren, einzutauchen, um zu lernen, sich im materiellen Umfeld und in der materialistischen Gesellschaft zurechtzufinden und zu läutern. Unbeirrt von allen Versuchungen, die sich ihr darbieten, will sie den Weg der bedingungslosen Liebe, die wir auch Christusliebe nennen, gehen. Sie möchte anderen Menschen helfen, auch den Weg ins ewige Licht der göttlichen Liebe zu suchen, sich selber anzunehmen und Erlösung zu finden vom Zwiespalt des Lebens auf diesem Planeten.

Diese Seele – meine Seele - sucht sich einen Körper, der durch die Vereinigung zweier sich zugeneigter Menschen entstanden ist und sich in Entwicklung befindet. Das geografische und gesellschaftliche Umfeld ist ihr wichtig, denn bei einem Urvolk in Zentralafrika, das einzig als Teil der Natur lebt, keine Häuser baut, keine Forschung betreibt und keine Bankkonten führt, könnte sie ihre Aufgabe nicht erfüllen. Sie findet ihren Körper im Zentrum Europas, einem Kontinent, der die kulturelle und intellektuelle Führerschaft für sich beansprucht, in einem Land, das seine vielfältige Schönheit und seine zweckdienliche Neutralität allseits anbietet, in einer Gesellschaft, die ihre ernsthafte Tüchtigkeit und buchhalterische Zuverlässigkeit als ihre wichtigen Merkmale betrachtet, in einer Familie, die ganz der Logik von Ursache und Wirkung und der rationalen Vernunft folgt. Das ideale Umfeld für den vorgenommenen Lernprozess.

Klein, nackt und schutzlos offen für alle Einflüsse finde ich mich auf dem weiten Feld des Lebens ein. Noch vollständig ist die Verbindung zur Weltenseele, vom irdischen Umfeld nehme ich – ausser körperlichem Behagen und Missbehagen – nichts wahr. Allmählich nur öffnen sich meine Sinne für alles was mich umgibt: Das weite Feld des Lebens ist eine herrliche Landschaft, seine friedliche beglückende Weite trifft sich ringsum am fernen Horizont mit dem unendlichen tiefblauen Himmelszelt. Dorthin, wo Himmel und Erde sich berühren, führt mein Weg, dort ist das Ziel meiner Reise, die sich "Leben" nennt. Zuerst von den Eltern getragen, dann kriechend, dann gehend bewege ich mich auf mein Ziel hin, das mich allseits umgibt. In bedingungslosem kindlichem Vertrauen wähle ich die Richtung, die am meisten lockt, frage nicht, erwarte nichts, denn ich bin geführt und stehe in vollkommener Übereinstimmung mit meiner Führung.

Bald realisiere ich, dass ich nicht der einzige auf dem Wege bin: Die Eltern, die Geschwister, die Nachbarn, die Schüler, Bekannte, Unbekannte – je mehr meine Wahrnehmung an Weite gewinnt, desto grösser wird die Zahl meiner Wegbegleiter. Eine unüberblickbare Zahl von Menschen bewegt sich auf dem Feld des Lebens, kleine und grosse, junge und ältere, in meiner unmittelbaren Nähe und weit weg von mir. Im Zentrum des Feldes, unseres Lebensraumes sind die Kinder und diejenigen, die Kinder geblieben sind. Ihr zurückgelegter Weg ist noch kurz, hat aber einen unbeirrt geraden Verlauf weg vom Punkte ihrer Ankunft in Richtung des unendlichen Horizontes, an dem sich Himmel und Erde berühren. Je älter die Menschen sind, desto länger und wirrer ist die Spur, die sie hinter sich lassen: sie geht im Zickzack, sie beschreibt Kreise, sie führt vorwärts und unentschlossen wieder zurück – der Weg durch einen Irrgarten mit unzählbaren Sackgassen. Gebückt blicken die Menschen auf den Boden, um den Weg besser zu erkennen, um nicht zu stolpern und den Fuss sicher aufzusetzen. Dabei haben sie den Blick vom Horizont, vom Ziel abgewandt, sie haben das Ziel ihres Lebens aus den Augen verloren.

Von den älteren Menschen, denen ich begegne, lerne ich Worte verstehen und sprechen. Sie geben mir Anweisungen, weisen auf Gefahren, auf Erlaubtes und Unerlaubtes, auf Gutes und Böses. Sie bringen mir Gehorsam bei und die Erfahrung, dass Ungehorsam bestraft wird. Sie fragen: "Wohin?", sie wollen den Grund meines Seins erfahren, den ich nur fühlen aber nicht in Worte fassen kann, weil ich für mich der einzige Grund meines Seins bin. Deshalb halten sie mich für verträumt, kindlich, ohne Realitätsbezug und unterrichten mich. Früh schon lerne ich von ihnen, dass ohne handfestes gesellschaftliches, wirtschaftliches Ziel kein Grund, kein Recht zum Leben besteht. Ich beobachte und ahme nach, ich bin neugierig und erforsche meine Umgebung, ich bin expansiv und suche nach den Grenzen. Ich lasse mich von den grossen Menschen führen, und verliere den Kontakt zu meinen himmlischen Führern. Mein Blick senkt sich mehr und mehr gegen den Boden, die Weite des Himmels und der ferne Horizont verschwinden aus meinem Blickfeld.

Ich lerne von den Grossen, wie ich meinen Fuss auf dem Boden aufsetzen muss, um sicher zu schreiten und rasch voranzukommen: Vernunft, Logik, Streben, Fleiss. Wenn ich vernünftig, fleissig und strebsam bin, die Erwartungen der Grossen erfülle, werde ich von ihnen angenommen. Dieses Angenommensein bedeutet für mich nun Liebe und Geborgenheit. Um es nicht zu verspielen bemühe ich mich ohne Unterlass und mit meiner ganzen Aufmerksamkeit um Anpassung und Erfüllung der Erwartungen und Anforderungen meiner nun menschlichen Führer. Die Einschränkung meiner Freiheit und die Unterdrückung der Bedürfnisse meiner Seele spüre ich gar nicht, meine Werthaltungen haben sich an den materiellen Mikrokosmos unserer Gesellschaft angepasst. Die klare Weitsicht, der verheissungsvolle Horizont sind verschwunden, die Weite des Wanderfeldes des Lebens hat sich auf einen kleinen Flecken Boden schräg vor mir eingeengt. Der Pfad, auf dem ich gehe, ist weder höckerig noch von farbigen Blumen gesäumt, er ist zweckmässig eben, langweilig betoniert und unentrinnbar eingezäunt. Es gibt kein Ausschwenken weder nach links noch nach rechts, schon gar kein Zurückbleiben: Die Menschen hinter mir drängen vorwärts, wer zögert wird gestossen, wer hinfällt wird zertrampelt. So wälzt sich der Menschen Strom auf diesem Weg ohne Weitsicht von einem zwingenden Erfolgsmotiv getrieben ins graue Unbekannte und ich mit ihm.

Wir gelangen in die Strassenschluchten von New York: Menschenmassen, Lärm, Gestank und überall nur Beton. Ringsum erheben sich bedrohlich die Wolkenkratzer, sie drohen die kleinen Wesen in den Strassenschluchten zu erdrücken. Es sind die Wolkenkratzer der Leistung, des Besitzes, des Wissens, der Macht. Die Menschen drängen sich in ihre Eingänge, denn nur durch sie, durch ihre Treppenhäuser und Liftanlagen glauben sie heraus aus dem Gedränge ans Licht gelangen zu können. Wenn ich nicht ersticken will, wenn ich freier atmen, den blauen Himmel sehen will, muss ich – so lautet die Lehre – durch einen Wolkenkratzer möglichst hoch hinaufsteigen. Ich lasse mich in einen Eingang drängen, in dem schon die erwachsenen Angehörigen verschwunden sind und lockend rufen. Der Eingang ist dunkel und muffig. Die Leute sind verängstigt und neugierig zugleich, sie drängen einander zur Seite und suchen hastig, angestrengt und voller ungeduldiger Erwartung den Aufgang. Es gibt keinen Lift.

Allmählich passen sich meine Augen der Dunkelheit an, und ich erkenne die Treppe. Ihre Stufen sind hoch für die jungen kurzen Beine und lassen sich nur mit grosser Anstrengung und oft erst im zweiten, dritten Anlauf erklimmen. Auf jeder Stufe stehen menschliche Ermunterer, sie rufen, geben Ratschläge und Anweisungen, aber sie helfen nicht wirklich, sie fordern mehr: Lesen, Schreiben, Rechnen. Im Laufe der Zeit wachsen die Beine und werden durch das stetige Training auch kräftiger. Aber es gibt kein Ausruhen auf den hart erkämpften Lorbeeren, denn die Grossen rufen, die Kleineren drängen und die Stufen werden höher: Fremdsprachen, Naturwissenschaften, kaum zu schaffen! Die Anstrengung lässt mich die Mitmenschen vergessen, auch die Luft und das Licht, denen entgegen diese mühsame Treppe führen soll, sind aus meinen Sinnen entschwunden. Nur die Stufen sind da und beschäftigen den ganzen Menschen, brauchen alle seine Kräfte, absorbieren die ganze Aufmerksamkeit. Die Beine sind nun ausgewachsen und die Treppenstufen haben selber die Höhe eines Wolkenkratzers bekommen: Ehrgeiz, Eitelkeit. Jede Stufe eine Kletterwand. Blutige Finger, wunde Füsse, sich erschöpfende Kraft. Aber es muss sein – noch eine Stufe und dann noch eine, auch wenn ich dabei einen andern abdränge, ihm auf die sich festkrallenden Finger tretet, auch wenn mir selber auf die Finger getreten wird und ich zurückfalle. Um jede höhere Stufe bemühen sich, auf jeder höheren Stufe stehen weniger Leute. Das Gedränge nimmt ab, die Einsamkeit zu. Es gibt keine Solidarität unter den wenigen, sie unterstützen sich nicht gegenseitig, denn jeder will noch höher hinaus, ist süchtig aufs Treppensteigen, betrachtet voller Neid den Mitmenschen als seinen Konkurrenten.

Alle geben einmal auf, die meisten schon ganz unten. Sie haben keine Chance, es fehlt ihnen das leitende goldene Seil, das vom sozialen Umfeld gedreht wird und an dem sie sich emporziehen könnten. Sie bleiben zurück, arrangieren sich. Sie kommen früh zur Vernunft, und darin besteht ihre Chance zu einem zufriedenen Leben. Meine Kräfte schwinden, ich bin entleert, ausgebrannt: Aber noch immer dröhnt es im Kopf: Wo geht es weiter, wo ist die nächste Stufe? Ohne Fleiss keinen Preis. Arbeit ist der Sinn des Lebens. Pflichterfüllung, Funktionieren nach den Regeln der Gesellschaft.

Wegelagerer versperren plötzlich die Treppe. Sie hinterfragen mein Tun: Wie hoch bin ich gestiegen und weshalb eigentlich? Sie haben es auf Ehrgeiz, Eitelkeit und Macht abgesehen, die wollen sie mir rauben, denn sie sind die Feinde der Wolkenkratzerkletterer. Sie kreisen mich ein, ihr Ring schliesst sich um mich eng und enger. Es gibt keine Ausweich-, keine Fluchtmöglichkeit. Wer es bis hierher gebracht hat, ist tief programmiert für das ruhelose Vorwärts und Aufwärts, hat den Röhrenblick gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolgs, für ihn gibt es nur die nächst höhere Stufe. Auf ihr stehen jetzt aber die Wegelagerer und ich stehe gebannt vor oder unter ihnen wie die Maus vor der Schlange. Mit einem unsanften und doch als irgendwie angenehm empfundenen Griff werde ich gepackt. Die Maske der Anpassung wird mir vom Gesicht, die Kleider der Eitelkeit vom Leib gerissen, das schwere Gepäck gefüllt mit Arbeitswille, Wissen, Ansehen, Ehrgeiz, Macht, Selbstvertrauen wird mir genommen. Alles nehmen mir die Wegelagerer weg und werfen mich – völlig entblösst – aus dem Fenster.

Ende! – einen Sturz aus dieser Höhe überlebt man nicht. Und wenn man ihn überlebte, würde man von den nachdrängenden Menschen zertrampelt oder wegen der Nacktheit und Mittellosigkeit aus Schadenfreude verspottet und verachtet. Ich erwarte einen langen Fall und einen schmerzhaften endgültigen Aufprall. Aber ich falle kurz und weich. War die Höhe, die ich unter Aufwendung aller meiner Kräfte errungen hatte, so gering? Oder wurde ich im Sturz von Engelshänden getragen? Erschöpft, kraftlos, ausgelaugt liege ich am Boden – bin ich, ist mein Leben zerstört? Menschen stürmen über mich und an mir vorbei, Eltern zerren ihre Kinder in die Eingangstüren der Wolkenkratzer. Niemand beachtet mich, niemand interessiert sich für meine Erfahrungen. Ich bin darüber gekränkt und gleichzeitig erleichtert. Als funktionierendes Zahnrad im Räderwerk unserer Gesellschaft bin ich abgeschrieben, ausser Betrieb genommen. Dieses Räderwerk wird mir kein Antrieb mehr sein.

Ich bleibe liegen, so wie ich gefallen bin. Ich rieche die Erde, mich blendet das Licht – eigenartig: tiefe Zufriedenheit breitet sich in mir aus. Diese Zufriedenheit ist wie die Sonne bei ihrem Aufgang. Sie bringt die Freude für den neuen Tag, die Ahnung von der Weite und Schönheit des Lebens, an dessen Ende sich Himmel und Erde berühren. Dort ist das Ziel meiner Reise, dorthin gelange ich ohne Streben, einfach durch das Vertrauen, das keines Beweises bedarf, weil ich es aus der Weltenseele hierher mitgebracht habe. Wollte ich nicht lernen, mich im materiellen Umfeld und in der materialistischen Gesellschaft zurechtzufinden und zu läutern und unbeirrt von allen Versuchungen den Weg der bedingungslosen Liebe zu gehen?!

Die Wegelagerer haben meinen Babylonischen Turm zerstört, sie haben Barmherzigkeit geübt.

von Dr. med. Tönet Töndury

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